Foto: András Schiff © Olaf Malzahn
Gstaad Menuhin Festival, Kirche Saanen, 19. Juli 2019
Bachrecital, András Schiff
Johann Sebastian Bach, Wohltemperiertes Klavier Band 1
von Jürgen Pathy
Bis auf wenige Wochen im Jahr herrscht im Saanenland absolute Ruhe. In der Sommerzeit avanciert das mondäne Rückzugsgebiet in den Bergen jedoch zum Hotspot der Schweizer Sport– und Musikwelt. Neben dem ATP Herren Tennis Turnier und der Beachvolleyball Major Series versammelt sich das Who-is-Who der Klassikwelt bereits zum 63. Mal beim Gstaad Menuhin Festival.
Mit dabei: András Schiff. Als einer der profundesten Bachexperten bekannt, gleicht bereits sein Einzug in die Kirche Saanen einer Zeremonie. Umhüllt von einer Aura, der niemand Schaden zufügen kann, schwebt der gebürtige Ungar förmlich den Mittelgang entlang zur Bühne. Nachdem er kurz innehält, bezieht er seinen Platz – ein in Mahagoni schimmernder Bösendorfer Grand Imperial. Eine Spezialanfertigung des Wiener Traditionsunternehmens, dessen Spitzenklaviere zu bändigen, enormes Fingerspitzengefühl erfordern, und die bei der kleinsten Grobheit sofort „zurückschlagen“, warnt András Schiff.
Eine Gefahr, die meilenweit entfernt scheint. Mit der stoischen Ruhe eines buddhistischen Zen-Meisters zelebriert András Schiff seinen Bach, den er kennt, wie seine Westentasche. Mit einer großen Palette an Farben, einer Leichtigkeit des Seins und einer würdevollen Eleganz tänzelt der Maestro durch die 24 Satzpaare, die aus je einem Präludium und einer Fuge bestehen. So als gäbe es nichts Leichteres und Natürlicheres auf dieser Welt. Bei Schiff wirkt es, als tauche er ein in eine ferne Sphäre. Völlig losgelöst vom Irdischen. Als nehme er Platz bei Johann Sebastian Bach, seinem Alter Ego, mit dem er jeden Tag beginnt, wie er erzählt.
Wie in einem meditativen Zwiegespräch scheint er die Umgebung, die zahlreichen Gäste, das gelegentliche Knarren der alten Holztraversen überhaupt nicht zu bemerken. Kaum eine unnütze Bewegung erschüttert seinen Körper. Hie und da ein intensiveres Lächeln, ein kurzer Blick empor. Ansonsten nichts, als die elegant über die Klaviatur gleitenden Hände.
Nur ab und zu, da wandert der rechte Fuß zum Halte-Pedal. Eine Bewegung, die András Schiff bis vor kurzem noch scheute wie der Teufel das Weihwasser – zumindest bei Bach. Allen wollte er es beweisen, Bach spielen zu können, ohne das Pedal auch nur anzusehen, geschweige denn zu berühren. Von dieser dogmatischen Haltung hat sich Schiff, der aufgrund der politischen Entwicklungen seit 2011 keine Konzerte mehr in seiner Heimat Ungarn spielt, mittlerweile verabschiedet: „Eine diskrete Menge Pedal spielt keine Rolle, solange sich alles gut anhört.“
Dafür stellt er sich neuen Aufgaben und Herausforderungen. Den kompletten ersten Band des Wohltemperierten Klaviers vor Publikum durchzuspielen, unterbrochen nur durch zwei kurze Generalpausen, wäre zumindest für die überwiegende Mehrheit seiner Zunft eine unüberwindbare Hürde. Für András Schiff, der erst vor wenigen Tagen den kompletten 2. Band gespielt hat, wie er erzählt, allerdings nicht.
Deshalb wundert es kaum, dass die rund neunzig Minuten in der überwiegend mit Holz verbauten Kirche in Saanen, deren „Akustik klingt, wie im Bauch eines Cellos“ (Yehudi Menuhin), verfliegen wie im Nu. Keine Spur von aufkommender Langeweile, keine Anzeichen der Übelkeit, die bei diesem bunten Griff durch die komplette Speisekarte schon Mal passieren könnte. Immerhin ist das Wohltemperierte Klavier nicht dazu konzipiert worden, um in einem durchgespielt zu werden – handelt es sich doch um keinen geschlossenen Klavierzyklus.
Sir András Schiff erweist sich aber als exquisiter Chef de cuisine. Ein Haubenkoch, der in der Lage ist, Hummer mit Erdbeeren zu mixen, ohne das einem der Magen übel mitspielt. Ganz im Gegenteil. Bei Sir Andras Schiff fühlt man sich nach der Reise durch die komplette Speisekarte wie Gott in Frankreich. Bon Appétit !
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