Charly Hübner beim ION Musikfest Nürnberg nach Schuberts Winterreise
Foto: Charly Hübner © Philip Kreibig

„Winterreise reloaded“: Charly Hübner öffnet Abgründe

  • Beitrags-Kategorie:Kritik
  • Beitrag zuletzt geändert am:13. Juli 2025
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Charly Hübner trifft Schubert, Nick Cave und Mahler. Damit sprengt der deutsche Schauspieler beim ION Musikfest alle Grenzen zwischen Klassik, Rock und existentiellem Wahnsinn. Was als „Winterreise“ beginnt, endet im Abgrund menschlicher Sehnsucht.

ION Musikfest, Nürnberg
Winterreise, 5. Juli 2025

Er ist Schauspieler, Regisseur und Sprecher. Mit Schuberts „Winterreise“ tritt Charly Hübner aber in eine ganz andere Liga, eine andere Welt. „Auf einen Totenacker, hat mich mein Weg gebracht“, da ist es längst schon um mich geschehen. Das sind die Worte des Wanderers, als er ins „Wirtshaus“ einkehrt – ein Synonym für den Friedhof, den Tod, der ihm noch nicht die Erlösung schenken will. Auf seiner Reise dahin, es ist immerhin Lied Nr. 20 aus Schuberts Liederzyklus, hat der Wanderer aber erlebt, was vorher nicht war – und das Publikum ebenso.

Nick Cave trifft Schubert

Mit „The Mercy Seat“ eröffnet Hübner diesen Abend, diese Reise, diesen Exorzismus, könnte man beinahe sagen. Nick Caves Song aus den 1980er-Jahren also, mit dem der Meister des Gothic-Rock einen inneren Monolog geschrieben hat. Er handelt von einem Mann, der auf seine Hinrichtung wartet – zum Tode geweiht. Von da an ist klar: Das wird eine spezielle Winterreise, die viel mehr auf den Schultern trägt, als nur die Todessehnsucht, die Schubert hier unvergleichlich in Noten gefasst hat. Es ist eine Täter-Opfer-Konstellation, die in Nürnberg, dem Ort des Reichsparteitags der NSDAP, einem den Schauer über den Rücken laufen lässt.

Geschaffen habe dieses Konzept der Arrangeur, erzählt der Kontrabassist. Eine erschütternde Trauma-Performance, die Klassik mit Underground und anderen Genres verbindet: Carlos Santanas „Black Magic Woman“, andere Strömungen der Musik und eine Bach’sche Fuge blitzen durch. „Das sei nicht bewusst gewesen, eine Improvisation“, holt der Herr weiter aus. „Aber wer mag schon Bach nicht“. Ansonsten: Gitarrenriffs, Schlagzeug, eine Predigt, wie man sie im Burgtheater erwarten würde, aber nicht in einer Kirche in Nürnberg.

Klassisch ist also nix, bis auf das Ensemble Resonanz, das in Kammerorchestergröße auf dem Podium sitzt. Schuberts Message, die Trostlosigkeit, die Ausweglosigkeit, den Schmerz erzählt dieses Arrangement aber intensiver, tiefer und vor allem: wienerischer, morbider als je ein Wiener oder Fischer-Dieskau es je geschafft hätten.

Epochaler Wahnsinn in Nürnberg

Wer nun denkt, es gäbe keine weiteren Überraschungen, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. Mahlers Adagietto erklingt, mitten während der Winterreise, das KOMPLETTE Adagietto aus seiner Fünften, man stelle sich das nur mal vor – dieser Einfall ist ein Geniestreich. Dass es das Ensemble Resonanz melancholischer spielt, gewichtiger, emotionaler als manch Starorchester, ist die nächste.

Dass Charly Hübner aus dem Liederzyklus etwas eigenes gestaltet, war hingegen zu erwarten. Dass er daraus ein Epos formt, das dem Salzburger „Jedermann“ Konkurrenz macht, aber nicht. Bruno Ganz trifft Nick Cave, holt Ben Becker dazu – und man hätte grob eine Vorstellung dessen, was sich da in Nürnberg abgespielt hat. Zum Ende: Gänsehaut an einem Abend, der eine Reise war, die so nie wiederkehrt.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 6. Juli 2025, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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