Ivry Gitlis ist tot. Der israelische Geiger ist gestern im Alter von 98 Jahren in Paris verstorben. Mit Gitlis, der 1922 in Haifa geboren wurde, geht nicht nur einer der größten seiner Zunft verloren, sondern eine ganze Ära zu Ende.
Einige Eckdaten, eines außergewöhnlichen Lebens: Mit fünf bekommt der kleine Isaac, so wurde er genannt, seine erste Violine. Studiert bei Mira Ben-Ami und lernt Bronislaw Hubermann kennen, der an den kleinen Isaac glaubt, und ihm einen Studienplatz in Paris ermöglicht. 1933 reist er mit seiner Mutter dorthin. Er nimmt Unterricht bei Marcel Chailley, Jaques Thibaud und George Enescu, und er ändert seinen Namen von Isaac in Ivry.
„…sei nicht so höflich zur Musik, es ist wie verliebt sein!“
(Ivry Gitlis)
1940 flüchtet er nach London. Arbeitet zwei Jahre lang in einer Kriegsfabrik und erhält einen Vertrag bei der britischen Armee. Nach Ende des 2. Weltkriegs debütiert er beim London Philharmonic Orchestra. Nicht das einzige Orchester von Weltrang, mit dem Gitlis spielen wird.
Ein Skandal macht ihn berühmt
In den 50er Jahren verschlägt es ihn nach Paris, wo er an der Long-Thibaud Competition teilnimmt. Mit bitterem Beigeschmack. Nicht nur, dass er zu Unrecht nur Fünfter wird – das Publikum sieht in ganz vorne –, üble Gerüchte machen die Runde. Sechs Jahre nach dem Fall Hitlers, unterstellt man ihm, einem Juden, er hätte während des Kriegs eine Stradivari gestohlen. Nichtsdestotrotz folgt sein Pariser Debüt mit einem Recital im Salle Gaveau.
Noch im selben Jahrzehnt zieht er in die USA, trifft Jascha Heifetz und startet nun so richtig durch. Von da an folgen Aufnahmen mit den Wiener Symphonikern, das Debüt bei den Berliner Philharmonikern, bei den Wiener Philharmonikern und dem Israel Philharmonic Orchestra. Er spielt mit Eugene Ormandy, George Szell und Jascha Horenstein, mit dem er Bartoks zweites Violin-Konzert aufnimmt, das von der New York Herald Tribune zur besten Aufnahme des Jahres 1955 gekürt wird.
Von Martha Argerich bis Jazz
Offen für neues. Gittlis hat keine Berührungsängste, entdeckt sich sein Leben lang neu. Er spielt nicht nur mit Martha Argerich, mit der er regelmäßig Kammerkonzerte gibt, sondern öffnet sich auch anderen Genres. Er spielt mit Yoko Ono, mit Jazz-Größen wie Trompeter Dizzy Gillespie und dem Geiger Stéphane Grappelli.
Nun ist dieser wagemutige Geist für immer verstummt. Etwas wagen, das war seine Quintessenz. Das hat Ivry Gitlis, der bis ins hohe Alter noch Meisterklassen gegeben hat, immer wieder betont: „Habt den Mut ihr selbst zu sein, Risiken einzugehen und keine Kopien von anderen zu sein!“
BR Klassik gedenkt am 28. Dezember diesem Genie und erinnert mit zwei Sondersendungen ab 17:00 Uhr an Ivry Gitlis.
„Höre auf dein inneres Ohr, das direkt mit deinem Herz und Geist verbunden ist – das sagt dir: Was du fühlst, das bist du auch!“
(Ivry Gitlis)
Video: Ivry Gitlis spricht über seine Stradivarius „Sancy“ aus dem Jahre 1713