Gstaad Menuhin Festival 2019: Auch vornehm-zurückhaltend scheint romantische Musik ihre Wirkung nicht zu verfehlen

Foto: Patricia Kopatchinskaja und Camerata Bern © Raphael-Faux

Gstaad Menuhin Festival, Kirche Saanen, 18. Juli 2019
Eröffnungskonzert
Patricia Kopatchinskaja, Violine
Polina Leschenko, Klavier
Camerata Bern

In der Schweiz da ticken die Uhren anders. Bereits die Anreise zum Gstaad Menuhin Festival erweist sich als einzigartiges Naturspektakel. Vorbei an steilen Abhängen, schneebehangenen Berggipfeln und saftig-grünen Almen führt der wahrhaftige Zug der Zeit durch das idyllische Saanenland nach Gstaad und Umgebung.

Bereits zum 63. Mal ist die exklusive Destination in den Schweizer Bergen Austragungsort des Gstaad Menuhin Festivals, das von „Wundergeiger“ Lord Yehudi Menuhin gegründet wurde. Dort wo sich Fuchs und Hase sonst gute Nacht sagen, reichen sich die Stars der Klassik-Szene jedes Jahr aufs Neue die Klinke in die Hand.

Zum Eröffnungskonzert konnte Intendant Christoph Müller, der das Festival im Jahr 2002 übernommen hat, Patricia Kopatchinskaja, 42, gewinnen. Bereits 2018 begeisterte die Ausnahmegeigerin, die bereits zweimal den Grammy gewonnen hat, das kultivierte Publikum im Saanenland. Dieses Jahr auch wieder in der 1604 erbauten Kirche Saanen, die seit jeher als Veranstaltungsort dient.

Anfangs erklingt die romantische Klangwelt des rumänischen Komponisten George Enescu, dessen Streicheroktett in C-Dur keineswegs der „Kakofonie“ gleicht, wie ein gut situiertes Damengespann im Pausengespräch zu vernehmen vermeint. Wirklich unangenehme Disharmonien sind aus diesem Frühwerk, das einen hohen Grad an kontrapunktischer Verflechtung aufweist, kaum zu vernehmen. Ganz im Gegenteil!

Überwiegend verströmt es einen unaufdringlichen Klang, der hie und da auch deutlich folkloristische Elemente erahnen lässt. Beinahe wirkt es, als entspränge dieser zurückhaltende, aber dennoch reichhaltige Klang historischen Instrumenten mit Darmbesaitung. Doch der Schein trügt. Es ist viel eher die Mischung aus der speziellen Akustik der Kirche, die Sir Yehudi Menuhin einst wie im Bauch eines Cellos verglich, und die feinfühlige Behandlung des Werks aller Protagonisten. Denn Kopatchinskaja und die Camerata Bern spielen auf handelsüblichen Stahlsaiten.

Das Schweizer Kammerorchester, dem die Freude am Musizieren förmlich aus allen Poren sprießt, arbeitet erst seit kurzem mit Kopatchinskaja als künstlerischer Leiterin zusammen. Das Ergebnis dieser kurzen, aber erfolgreichen Kooperation ist ein subtiler Klangkörper, der sich des Vibratos nur äußerst dezent bedient.

Nur wenn unbedingt notwendig, wie in einigen Solopassagen des Mendelssohn‘ schen Konzerts für Violine, Klavier und Orchester in d-Moll, wird dieser expressive Effekt aus der Schublade geholt. Durch diesen Minimalismus entsteht ein völlig ungewohnter Klang. Vor allem für einen Wiener, der es gewohnt ist im vollmundigen „Wiener Klang“ der österreichischen Spitzenorchester zu baden, ergeben sich dadurch neue geistreiche Erkenntnisse – nämlich: Auch vornehm-zurückhaltend scheint romantische Musik ihre Wirkung nicht zu verfehlen.

Eine Einsicht, die möglicherweise sogar im Sinne Mendelssohns sein könnte. Wie sein genialer Vorgänger Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Einfluss in diesem Jugendwerk nicht zu überhören ist, reiste der junge Felix durch ganz Europa. Jedoch nicht, um Salons und Höfe zu beeindrucken, sondern um neue Dimensionen des Geistes zu öffnen.

Dieser Philosophie scheint sich Patricia Kopatchinskaja an diesem Abend vollends verschrieben zu haben. Mag der jugendlich wirkenden Dame, die wie üblich barfuß musiziert, zwar ein gewisser Ruf der Exzentrik vorauseilen. Im tiefsten Herzen gilt der Focus dieser Ausnahmemusikerin – ebenso wie ihrer Klavierpartnerin Polina Leschenko – eindeutig dem wirklich Substanziellen: der Musik! Taktvoll, sensibel und vornehm-zurückhaltend erschaffen sie neue Räume und Dimensionen, und beflügeln die rund 600 begeisterten Zuschauer in der vollbesetzten Kirche Saanen zu frenetischen Beifallsstürmen.

George Enescu (1881 – 1847)
Oktet C-Dur op. 7 (Fassung für Streichorchester)
Felix Mendelssohn-Bartholdy
Konzert für Violine, Klavier und Orchester d-Moll MWV 04 (1823)

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