Kristina Mkhitaryan und Amartuvshin Enkhbat in "La Traviata" an der Wiener Staatsoper
Foto: Kristina Mkhitaryan und Amartuvshin Enkhbat in "La Traviata" an der Wiener Staatsoper © Michael Pöhn

Bis die Polizei kommt: Simon Stones umstrittene „La Traviata“ spaltet die Gemüter

Wiener Staatsoper, 29. Oktober 2022
La Traviata, Giuseppe Verdi, Francesco Maria Piave

von Jürgen Pathy 

Etwas mehr Schmutz – den hätte es musikalisch zeitweise durchaus vertragen. An der Wiener Staatsoper leitet Thomas Guggeis, 29, gerade die aktuelle Serie von „La Traviata“, der meistgespielten Oper von Giuseppe Verdi. Höhepunkte setzt der blutjunge Dirigent erst zum Ende. Zuvor führt er zwar ein feines, beinahe schon edles Dirigat, schlüpft aber viel zu sauber in die Partitur, die durchaus mehr Derbheit vertragen könnte. Vielleicht aber auch nur, um das Regiekonzept zu unterstützen.

Die Dosis macht das Gift

Damit hat Simon Stone in Wien schon viel Staub aufgewirbelt. Das Konzept des gebürtigen Schweizers, der lange Zeit in Australien gelebt hat: Alte Klassiker durch den Fleischwolf drehen und mit teils sogar neuem Text in die Gegenwart transportieren. „Überschreibungen“ nennt Stone das. Damit hat er am Sprechtheater für Furore gesorgt. Nun hat man den „Regie-Shootingstar“, den auch das ferne Hollywood mit Angeboten lockt, auf die Oper losgelassen.

Violetta, „Die vom Wege Abgekommene“, ist keine Kurtisane mehr, sie stirbt auch nicht an Tuberkulose. Bei Stone ist Violetta ein It-Girl, eine Influencerin, der auf Instagram über eine Million Fans folgen und die an einem Krebsgeschwür leidet. Das hämmert Stone einem auch ordentlich ins Gedächtnis. Während der typische Verdi-Walzertakt immer weiter in die Ferne rückt, weil Stone den Fokus eindeutig auf die Bühne lenkt, überfordert er den Zuschauer mit einem Bombardement an WhatsApp-Nachrichten, die über eine riesige Leinwand flimmern. Sein Konzept dahinter mag schlüssig klingen.

An keiner Stelle des Librettos sei explizit erwähnt, dass Violetta eine Kurtisane sei. Einzig und alleine Andeutungen gäbe es, die zum Ende des 2. Akts zu finden wären. Da bewirft Alfredo seine Geliebte mit Geldscheinen. Das könne man aber durchaus anders interpretieren, sagt Stone im Gespräch mit Bogdan Roščić. „Weil sie so viele Schulden hatte am Anfang des Akts“. Bei Stone dann satte 120.000 Euro, die Violetta beim Digital-Detox irgendwo in den Bergen zu vergessen versucht.

Die Crux bei der ganzen Sache. So zeitnah das alles auch sein mag. Den Nerv der Zeit trifft Stone damit nämlich schon. Eine Influencerin, die in ihrer Social-Media-Blase gefangen bleibt und jedes noch so kleine Detail ihres Lebens der Öffentlichkeit preisgibt, erreicht das junge Publikum vermutlich eher, als eine Edelprostituierte, die sich der Pariser Oberschicht ausliefert und am Ende an Tuberkulose stirbt.

Die Frage, die man sich am Ende allerdings stellen muss: Will man der Oper mit aller Gewalt die aktuelle Realität überstülpen oder durch dezentere Herangehensweise, wie andere Regisseure es handhaben, zumindest ansatzweise den ursprünglichen Sinn des ganzen Sujets erhalten. Denn, dass man, mit ausuferndem „Regietheater“, die Oper retten könnte, das bezweifeln viele. Beim Wiener Publikum scheint es einstweilen Anklang zu finden.

Die Touristen zieht es wieder ins Haus

Die ganze Vorstellungsreihe ist beinahe restlos ausverkauft, das Haus auch auf den Stehplatzrängen gut gefüllt. Zwei Reihen vor mir dirigiert eine ältere Dame fast durchgehend die ganze Oper mit. Neben mir auf der Stehplatzgalerie amüsieren sich drei Damen aus Ungarn. Überwiegend dann, wenn Stone mit kopulierenden Personen in Form von Leuchtstoffröhren oder Umschnall-Dildos um die Aufmerksamkeit hascht. Nur einem Gast scheint das Ganze über den Kopf zu wachsen: Der Aufforderung, das Haus zu verlassen nicht folgeleistend, schleifen rund ein halbes Dutzend herbeigeilte Exekutivbeamten einen älteren Herren zur ersten Pause aus dem Parkett hinaus.

Dem Dirigat von Thomas Guggeis scheint die Verzögerung nicht zu schaden. Der dreht zum Ende hin nochmals auf und wirkt, als hätte es nur ein wenig Feintuning benötigt, um bei der ersten Aufführung der Serie auch mit dem Staatsopernorchester ordentlich auf Tuchfüllung zu gehen. Der Rest des Erfreulichen ist überschaubar.

Das Sängerensemble

Dmytro Popov, ein junger Russe, der in Wien kein Neuling ist, bleibt als Alfredo überwiegend eindimensional. Vor allem in den Schlüsselszenen seiner Partie, wo er mal richtig auf die Tränendrüse hätte drücken können: „Un dì, felice, eterea“, das Duett bei dem Alfredo seine ganze Liebe offenbart, hat man schon bei weitem gefühlsbetonter und mit deutlich mehr dynamischen Schattierungen gehört. Nur im Forte zu glänzen, reicht letztendlich nicht aus.

Amartuvshin Enkhbat, bei seinem Rollendebüt am Haus als Vater Germont, lässt zwar vokal die Herzen höher schlagen, bleibt szenisch aber einiges schuldig. Vielleicht auch, weil Stone bei dieser Partie ein wenig von seiner viel gerühmten Personenführung vermissen lässt.

Nur Kristina Mkhitaryan, die Violetta des Abends, weiß bei ihrem Hausdebüt zu überzeugen. Auch wenn da der ein oder andere Schluchzer mehr dabei sein könnte, sie reißt gemeinsam mit Guggeis zum Ende das Ruder doch noch herum. Samtweich gehauchte Piani und ein Schlussakt, bei dem man ihr vor die Füße fallen könnte, bescheren einen doch noch überdurchschnittlichen Repertoire-Abend.

Jürgen Pathy (klasssikpunk.de), 31. 10.2022, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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