Interview mit Lucio Golino, der als Maestro suggeritore an der Wiener Staatsoper und bei den Bayreuther Festspielen arbeitet.
Sagen Sie niemals Souffleur zu ihm. Der Maestro suggeritore kann viel mehr als nur „einsagen“, schrieb der Kurier in einer Sonderausgabe zum 150. Jubiläum der Wiener Staatsoper. Lucio Golino ist einer von ihnen. Er spricht zwei Fremdsprachen, ist quasi der Dirigent für die Sänger und hat eine Ausbildung als Kapellmeister. Ohne ihn ginge in einem Haus, wie der Wiener Staatsoper, wo beinahe an 300 Tagen im Jahr eine Aufführung stattfindet, wenig.
Mit klassik-begeistert sprach der aus Bozen (Südtirol) stammende Italiener, der seit 1989 in Wien lebt, über seine Arbeit an der Wiener Staatsoper, im Bayreuther Festspielhaus und gibt einen Tipp, wie man den Hörgenuss, egal ob Konzert oder Oper, noch steigern kann.
Interview: Jürgen Pathy / Klassikpunk
Herr Golino, gleich zu Beginn eine grundlegende Frage: Was genau ist die Aufgabe eines Maestro suggeritore?
Der Maestro suggeritore hat die doppelgleisige Aufgabe, den Sänger und den Dirigenten gleichzeitig zu unterstützen. Er stellt ja die VERBINDUNG zwischen den beiden. Während der Vorstellung steht der Sänger alleine auf der Bühne. Er wird auf eine harte Prüfung gestellt, hört das Orchester teils gut, teils schlecht – und stellenweise verliert er die optische Verbindung zum Dirigenten. Dabei muss der Sänger nicht nur den musikalischen Teil, sondern auch die Regieanweisungen auswendig beherrschen. Das beinhaltet eine riesengroße nervliche Anspannung und erfordert ein exzeptionelles Konzentrationsvermögen. Der Sänger darf deswegen aber nicht „in sich selbst gekehrt sein“, sondern muss vielmehr aus sich heraus gehen – um das Publikum zu erreichen, zu überzeugen, zu begeistern und um die künstlerische Leistung dem Werk gegenüber optimal zu vollbringen. Die Anwesenheit einer „psychologischen Stütze“ ist hierbei entscheidend wichtig: Der Maestro suggeritore ist für den Sänger da. Er gibt ihm „hautnah“ dieselben Einsätze, die der Dirigent aus dem Orchestergraben gibt.
Reicht der Dirigent alleine nicht aus?
Der Dirigent, der weit hinten im Orchestergraben oft mit dem Orchester die Hände voll hat und der deswegen nicht immer alle einzelnen Sänger auf der Bühne im Blick haben kann, weiß genau: Die Sänger werden pausenlos von einem Maestro suggeritore betreut und am musikalischen Geschehen „dran gehalten“. Auch wichtig: Solange der Dirigent die Lautstärke im Orchester unter Kontrolle halten will – was oft der Fall ist, vor allem bei Wagner und Richard Strauss –, muss seine „Schlagebene“ niedrig bleiben. Das erschwert das technische „Einsätze-Geben“ auf Bühnenhöhe, weil hierfür sollte die Schlagebene entsprechend höher werden, und die Kontrolle über das Orchester könnte dabei abhandenkommen.
Außerdem: Falls ein Sänger aus verschiedenen Gründen musikalisch aussteigen sollte, könnte der Dirigent nur bedingt helfen – das heißt, nur „gestisch“. Der Maestro suggeritore ist hier ein wichtiges Bindeglied. Aus nächster Nähe zum Sänger kann er eine direkte, visuelle und akustische Verbindung zwischen Sänger und dem weit entfernten Dirigenten herstellen. Um Sänger und Dirigenten perfekt zusammenzuhalten, sieht der Maestro suggeritore den Dirigenten auf einem Monitor. Sowohl den Sängern als auch den Dirigenten ist diese Tatsache sehr bewusst. Das Resultat davon soll ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit sein – sowohl vor, während und nach der Vorstellung.
Es geht also viel um Sicherheit, Geborgenheit und sich auf jemanden verlassen können?
Genau. So können die Sänger ihr volles Potential ausschöpfen. Vor allem in einem Haus wie der Wiener Staatsoper, wo beinahe jeden Tag eine andere Oper aufgeführt wird.
Wie genau gibt der Maestro suggeritore die Einsätze?
Der Maestro suggeritore gibt den Einsatz händisch, genau wie der Dirigent. Dazu wird vor dem Einsatz der Text rhythmisch angeschlagen, damit der Sänger immer wieder auch akustisch an die jeweilige Stelle erinnert wird. Sollte der Sänger, weshalb auch immer, trotzdem nicht pünktlich einsetzen, dann singt der Maestro suggeritore, der das Geschehen mithilfe eines Klavierauszugs verfolgt, sogar laut aus dem Kasten. So kann der Sänger auf der Bühne noch schnell einsteigen, ohne dass das Publikum es bewusst merkt.
Sollte der Sänger die akustische Verbindung zum Orchester verloren haben, hilft der Maestro suggeritore mit leichtem Händeklatschen, den Takt wieder zu finden. Sollte der Sänger in schwierigen Musikstücken den „Ton“ brauchen, summt oder singt der Maestro suggeritore im Voraus in der notwendigen Tonhöhe.
Wo ist das besonders wichtig?
Am wichtigsten ist die Mitwirkung eines Maestro suggeritore vor allem in komplizierten Ensemble-Szenen wie der Walkenkürenszene aus der „Walküre“, dem Judenquintett in „Salome“ oder dem ersten Finale in „Le nozze di Figaro“. Das sind jedoch nur einige Beispiele von vielen. Der Vorteil des suggeritore ist es, dass er den zahlreichen Sängern dabei einzeln in die Augen schauen kann und ihnen den nächsten Einsatz quasi direkt „in den Mund legt“.
Ab und an vertritt der Maestro suggeritore sogar den Dirigenten, habe ich gehört.
Ja. Zu Beginn einer Produktion, während der ersten Regieproben, ist der Dirigent aus verschiedenen Gründen oft noch nicht im Haus. So übernimmt der Maestro suggeritore stellvertretend die Kapellmeisterfunktion und leitet – in kollegialer Zusammenwirkung mit dem Korrepetitor – die Probe.
Nennen Sie bitte drei Charaktereigenschaften, die einen guten Maestro suggeritore auszeichnen.
- Eine sehr solide musikalische Ausbildung, ohne der es ihm unmöglich wäre, das musikalische Geschehen zu verfolgen und zu meistern.
- Die psychologische Fähigkeit, die Sänger und den Dirigenten zu verbinden, ohne dass die einen sich „bevormundet“ fühlen und der andere sich um seine Autorität beraubt fühlt.
- Das Bewusstsein, dass ihm nicht der „große Applaus“ oder die höchste Geldgage gebührt, sondern dass er sich mit stiller, ehrlicher Dankbarkeit der Künstler zufriedengeben darf.
Was wiederum darf ein Maestro suggeritore bei seiner Arbeit auf keinen Fall machen?
Ein kluger Maestro suggeritore darf sich bei seiner Arbeit niemals vor den Kollegen und den Vorgesetzten profilieren wollen. Er ist und bleibt bloß ein hochmusikalisches Werkzeug im Dienste der „sichtbaren“ und „hörbaren“ Künstler.
Wie würde eine Aufführung an der Wiener Staatsoper aussehen, gäbe es keinen Maestro suggeritore?
An der Wiener Staatsoper herrscht ja das sogenannte Repertoiresystem. Das bedeutet, dass jeden Abend eine andere Oper gespielt wird, die meistens nur kurz geprobt wurde. Die Hauptrollen werden oft durch Gäste besetzt, die möglicherweise auf die Partie bereits seit Monaten fokussiert sind. Sie brauchen den Maestro suggeritore nur bedingt. Die kleineren Partien werden aber von Ensemblemitgliedern gespielt, die fast jeden Abend in immer wieder verschiedenen Werken auftreten. Sie sind auf die Unterstützung des Maestro suggeritore angewiesen. Ohne Maestro suggeritore wären genau diese kleineren Rollen besonders der Gefahr eines „Schmisses“ ausgesetzt. Unter bestimmten Umständen benötigen jedoch auch Sänger, die eine Hauptrolle singen, die ganze Aufmerksamkeit des Maestro suggeritore. Und zwar dann, wenn ein neuer Sänger kurzfristig einspringen muss. Den ganzen Abend lang gebührt dann ihm speziell die ganze Aufmerksamkeit. Dasselbe gilt auch für Einspringer in Nebenrollen.
Es würde also auch ohne Maestro suggeritore funktionieren?
Generell betrachtet, wäre das möglich. Sänger und Dirigenten wären sehr wohl in der Lage, den Abend auch ohne Mitwirkung eines Maestro suggeritore erfolgreich über die Bühne zu bringen. Es gibt Opernhäuser, wo es ohne weiteres möglich ist. Nur das Bewusstsein, dass die Sänger kleinen oder großen Unfällen ausgesetzt sind, wäre größer. Das würde dazu führen, dass die nervliche Anspannung vor und während der Vorstellung viel größer wäre – mit möglicherweise unangenehmen Folgen. Vergessen wir nicht: Auch Opernsänger sind Menschen, denen die momentane Aufregung schlimme Striche spielen kann – trotz perfekter Vorbereitung!
Herr Golino, wie sieht ein gewöhnlicher Arbeitstag bei Ihnen aus?
Vormittags 10:00 – 13:00 Uhr Probe (Wiener Staatsoper.
Nachmittags 14:30 – 16:30 Uhr, Kinder– bzw. Jugendchorprobe (Volksoper Wien)
Abends: 17:00 – 20:00 Uhr Probe (Wiener Staatsoper) oder (statt der Nachmittagsprobe) ca. 19:00 – ca. 22:30 Uhr VORSTELLUNG
Erzählen Sie uns eine Anekdote aus Ihrem Leben als Maestro suggeritore, die derart bemerkenswert, witzig oder skurril war, dass Sie sie niemals vergessen werden?
Zu Beginn der Probe treffe ich den berühmten Sänger XY zum ersten Mal. Da der Regisseur, der in meiner Nähe steht, bereits mit seinen Erklärungen begonnen hat, rede ich mit diskreter Lautstärke und stelle mich kleinlaut mit Namen und Funktion vor. Der berühmte Sänger zu mir mit forschem Tonfall: „UND? WARUM SO LEISE?“ Ich erröte und schweige. Meine Annahme: Mit der wenig freundlichen Bemerkung will er mir klarmachen, dass er verlangt möglichst viel Hilfe in „brauchbarer“ Lautstärke von mir zu erhalten. In einem Wort: Ich soll LAUT zu ihm sein. Ich bin bereit. Sobald die Szene des berühmten Sängers beginnt, schlage ich KLAR UND DEUTLICH den Text in seine Richtung an. Des Sängers blitzartige, unerwartete Reaktion: „DANKE, NICHT SO LAUT, ICH KENNE DIE WÖRTER!“ …Sapienti sat…
Was war die wichtigste Lektion, die Sie von einer Person mit auf den Weg bekommen haben, von der Sie als Musiker bis heute noch zehren?
Der Dirigent Peter Schneider, der ein Leben lang das gesamte Opernrepertoire rund um die Welt dirigiert hat, verblüffte mich in seinen späten Jahren immer wieder mit seiner Liebe zur Sache und mit seinem Entdeckungseifer. So teilte er mir mit Begeisterung seine aktuelle Stellungsnahme und seine mannigfaltigen Erkenntnisse zum jeweiligen Werk mit. Es war jedes Mal so, als ob er das Werk zum ersten Mal entdecken würde.
Eines Tages wage ich die Frage: „Herr Schneider, Sie haben ja jedes Werk dutzendfach dirigiert. Was empfinden Sie, wenn Sie es heute noch dirigieren müssen? Ist es Ihnen nicht irgendwie mühsam oder langweilig? Sie kennen ja jeden Ton auswendig…“
Peter Schneiders Antwort: „Wissen Sie, als ich jünger war, habe ich nicht viel nachgedacht, wie oft ich das eine oder andere Werk dirigiere – das war doch immer mein heißgeliebter Beruf. Jetzt aber, wo ich älter bin, weiß ich genau, es könnte irgendwann das letzte Mal sein, dass ich ein bestimmtes Werk dirigiere. Aber ich darf es eben noch einmal dirigieren und neu entdecken. Was empfinde ich dabei? DANKBARKEIT!“
(Anmerkung der Redaktion:Peter Schneider hat an allen bedeutenden Opernhäusern dirigiert. An der Bayerischen Staatsoper, der New Yorker Met, der Semperoper in Dresden, an der Deutschen Oper Berlin, an der Wiener Staatsoper u.v.m. Von 1981 bis 2012 war er Dirigent bei den Bayreuther Festspielen. In 20 Spielzeiten schaffte er es dabei zu 142 Aufführungen des „Fliegenden Holländer“, „Lohengrin“, „Ring des Nibelungen“ & „Tristan und Isolde“. Er ist damit der am häufigsten bei den Bayreuther Festspielen tätige Dirigent.)
Welchen Tipp würden Sie selbst unseren Lesern geben, um ein Konzert oder eine Oper in vollen Zügen genießen zu können? Was sollten sie beim nächsten Besuch unbedingt beachten?
Es gibt Konzert– bzw. Opernbesucher, die eher auf die Interpreten als auf das Werk fokussiert sind. „Heute Abend höre ich mir den Pianisten XA oder die Sängerin YZ an.“ Aber auf die Frage, WAS diese so bewunderten Künstler spielen oder singen, herrscht oft Stille. Meine Anregung: Das Ereignis des Abends ist und bleibt das WERK, dem die Künstler, Pianisten, Sänger – ob berühmt oder nicht – zu Dienste stehen. Um ein Konzert oder eine Oper in vollen Zügen genießen zu können, sollte man sich in erster Linie so gut wie möglich über das WERK und dessen Schöpfer im voraus informieren – durch Lektüre und Tonaufnahmen. Man sollte immer wissen, worauf es im Werk ankommt, sei es instrumentaler, vokaler, sakraler oder theatralischer Art. Nur so wird der Zuhörer in der Lage sein, die Leistung der Interpreten (die er mit Recht liebt und unterstützt) wirklich begreifen und tiefgründig schätzen zu können.
Momentan verbringen viele Musikliebhaber viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Gibt es ein Buch, eine CD oder auch Streamingangebot, dass Sie uns dringend empfehlen würden?
BÜCHER:
Vielleicht nicht gerade der Jahreszeit entsprechend, dennoch sehr inspirierend und informativ:
- Ian Bostridge, Schuberts Winterreise, Lieder von Liebe und Schmerz, München 2015
Nikolaus Harnoncourt, immer wieder hochaktuell, provokativ und ohne jegliche Arroganz belehrend:
- Musik als Klangrede, Kassel u.a. 1982
- Der musikalische Dialog, Kassel u.a. 1994
Leichtere Kost als fantasievolle Unterhaltung:
- Eva Baronsky, Herr Mozart wacht auf, Berlin 2009
CD:
- Richard Strauss, Vier letzte Lieder, Jessie Norman, Gewandhausorchester Leipzig, Kurt Masur, Philips
Lassen Sie uns träumen. Eine Zauberfee erfüllt ihnen einen Wunsch. Sie wachen morgen auf und die Wiener Staatsoper ist wieder geöffnet. Welche Oper, mit welchem Dirigenten und welchem Sängerensemble würden sie gerne erleben?
Wagners „Parsifal“ – mit Semyon Bychkov am Pult, Andreas Schager als Parsifal, Günther Groissböck als Gurnemanz und Elena Pankratova als Kundry.
Also die Besetzung, wie letztes Jahr in Bayreuth, wo Sie ebenfalls als Maestro suggeritore dabei waren…
Genau!
Gibt es einen großen Unterschied zwischen der Arbeit als suggeritore im Bayreuther Festspielhaus und der Wiener Staatsoper?
Ich meine: An diesen beiden Häusern zu wirken, ist ein ganz spezielles Privileg. Ich danke Gott deswegen. Aber im Grunde genommen, wie Professor Schneider gesagt hätte: „Überall wird mit Wasser gekocht.“
Herr Golino, vielen Dank für das ausführliche Interview und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben.